Prof. Dr. Andreas Ziemann (Bauhaus-Universität Weimar, Medienwissenschaft)

Eröffnungsrede „Cirque du Bauhaus“

gehalten am 26. Mai 2019 im Zeiss-Planetarium Jena

Lieber Micky Remann, sehr geehrter Prof. de Oliveira Pinto, liebe Protagonisten des heutigen Abends, sehr verehrte Gäste,

es ist mir gleichermaßen Ehre wie Freude, Sie alle hier und heute begrüßen und auf Wunsch von Micky Remann ein paar Reflexionen und Würdigungen des anstehenden Multimedia-Spektakels „Cirque du Bauhaus“ vorausschicken zu dürfen.

Der erste konkrete Hintergrund der Einladung zu diesen Eröffnungsworten besteht in nichts anderem als in meinem enthusiastischen Erleben einer teilschnitthaften Uraufführung dieses visuell-akustischen Spektakels während der Feierlichkeiten des Bauhaus-Jubiläums am 12. April in Weimar. Meines Erachtens war der Cirque du Bauhaus das mit Abstand beste Werk inmitten aller anderen Ausstellungs- und Performanceangebote. Und meine Hoffnung besteht in nichts Geringerem, als dass heute mein Ersteindruck auf fulminante Weise überboten wird. Möge damit die Spannung gleichermaßen bei allen Mitwirkenden, aber auch im Auditorium nochmals gezielt gehoben werden. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass mir zu Ohren gekommen ist, dass die Uraufführung letzten Mittwoch sehr erfolgreich war und gefeiert wurde. Deshalb wünschen wir uns für heute die Kür und das Zirkusfinale, ohne dass irgendwie nachgelassen würde.

Der zweite konkrete Hintergrund besteht darin, dass Micky Remann und ich seit langem gemeinsam an der Bauhaus-Universität Weimar wirken, er als ein überaus geschätzter Kollege im Bereich der Medienkunst, ich im theoretischen Bereich der Kultur- und Mediensoziologie. Micky Remann – diesem laut Selbstbeschreibung umtriebigen Weltbildreisenden, Ozeandertaler und somnabulen Wassermusiker – wurde dann schließlich im Jahre 2014 die verdiente, ja die institutionell höchste formale Anerkennung zuteil mit seiner Ernennung zum Honorarprofessor für „Immersive Medien“. Wenn Sie sich nun fragen, was immersive Medien bedeuten, dann werden Sie dies gleich am Besten im Anschluss durch das Cirque du Bauhaus erleben können, sodass sich eigentlich jede abstrakte Erklärung verbietet. Und dennoch will ich Ihnen dazu trotzdem – gleichsam als performativen Widerspruch – einige Überlegungen mit auf den Weg geben, genauerhin Überlegungen in vier kurzen Abschnitten zu 1. Immersion, 2. Illusion, 3. Medien und 4. dem symphonischen Zirkus als Gesamtkunstwerk.

(1) Immersion bezeichnet den subjektiven Erlebensmodus, tief mit seiner Umgebung zu verschmelzen und in bestimmter Weise die Trennung von innen/außen oder cartesianisch gesprochen: die Trennung von von res cogitans versus res extensa, zu unterlaufen bzw. aufzuheben. Man tritt in einen ungeahnten und ungekannten Wahrnehmungsraum ein und wird selbst zum Teil des multisensorischen Geschehens. Diese Form höchster Involviertheit führt bisweilen zu einer Bewusstseinsvergessenheit, vor allem eines reflexiven Ego-Bewusstseins, weil man ganz und gar präsentisch nur reines Bewusstseinserleben von etwas ist und das wahrnehmende Ich verschwindet. Sie kennen dies vielleicht aus einem fesselnden Roman oder Kinofilm oder Computerspiel, bei dem Sie alles um sich herum und auch sich selbst vergessen und ganz lesendes oder ganz audiovisuelles Bewusstsein des gebotenen Inhalts, des sogenannten Noemas (nach Husserl) sind. Eine gesteigerte Form dessen bietet die physikalische 360-Grad-Immersion an, wie sie uns heute vorgeführt wird. Dabei soll nicht nur Ihr Bewusstsein, sondern auch Ihr sensorischer Leibkörper an fremde, an virtuelle, an transzendente Orte versetzt werden und mit diesen selbstvergessen synthetisieren.

(2) Illusion: Illusionen verdanken sich bestimmten Einbildungen und Glaubenssätzen und sind an unterschiedliche Formen und Praktiken von positiver Wirklichkeitsgestaltung und Lust gekoppelt. Ihre Gegenpole sind einerseits die gesellschaftliche Realität und andererseits Unlust und jegliches Leiden. In diesem Sinne hat Sigmund Freud festgehalten: „Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt, und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie die Illusion selbst auf ihre Beglaubigungen verzichtet.“ (1999: 354)

Das bedeutet demnach (und ich folge hier Überlegungen der Philosophin Christiane Voss), dass Illusionen dem illudierten bzw. illudierenden Subjekt in ihrem überzeugungsartigen Charakter unzweifelhaft evident erscheinen. Der verzweifelt in der Wüste Verdurstende sieht tatsächlich eine Oase, eine Fata Morgana vor sich, auf die er sich de facto zubewegt, ohne doch je ankommen zu können. Von einer derart wirkungsvollen Eindeutigkeit sind zumeist auch die Gehalte heimlicher Selbstidealisierungen, wie z.B. die des wirkmächtigen Glaubens an bestimmte außergewöhnliche, überdurchschnittliche Begabungen oder Eigenschaften, die man zu besitzen vermeint. Allen Illusionen, Wunschbildern oder auch überzogenen Einbildungen ist gemeinsam, dass sie sich einer rationalen, intersubjektiven Kontrolle entziehen und illudierte Subjekte meist auch ihre Einbildungen nicht einer solchen Kontrolle unterziehen wollen. Gerade dieses Faktum scheint Illusionen gleichermaßen zu sowohl heimlichen als auch wirksamen und gut behüteten Zuständen zu machen. Eine nachhaltige Referenz haben Illusionen im Bereich und Modus der self-fulfilling-prophecy: Man pflegt an bestimmte Eigenschaften zu glauben oder bestimmte Zuschreibungen vorzunehmen, die zwar keine kognitiv-epistemische Entsprechung haben, aber nichtsdestotrotz die Weltwahrnehmung und ihre Gehalte durch selektive Prozesse subjektiv als wahr begründen und in ihrer Selbstverstärkung nicht mehr negieren lassen. Einen zweiten besonderen, geradezu paradigmatischen Ort finden Illusionen im Bereich der Ästhetik und der Eigenmacht künstlerischer Produktion – und diese Wirkkraft gilt es heute ebenfalls gleich zu erleben.

(3) Medien: Medien tragen und verbreiten Informationen und Wissenswertes. Medien ermöglichen Weltwahrnehmung und Fremderfahrung. Und Medien greifen grundsätzlich selbst in das mit ein, was sie vermitteln. Deshalb sind sie nicht neutral, sondern eigenmächtige Akteure inmitten aisthetischer Erfahrung, sozialer Kontakte und des gesellschaftlichen Geschehens im Generellen. Unterscheiden lassen sich Medien u.a. nach den Graden von flüchtig versus beständig, von vereinzelnd versus kollektivierend oder auch von verbindend versus trennend. Für akustische Medien ist eine hohe Flüchtigkeit charakteristisch: Mit ihrem Auftreten verschwinden sie sofort wieder und entziehen sich jeder Dauer und Fixierbarkeit. Das gilt beispielsweise für die gerade vollzogene menschliche rede oder für die Tonkunst oder auch für alle Umweltgeräusche gleichermaßen.

Demgegenüber stehen alle Kulturtechniken der Grafie, des Aufschreibens von einfachen Zeichen bis hin zu komplexen Zeichenfolgen. Und ein besonderes Modell bilden jene Ontografien, die in den realen Raum ausgreifen, die prozesshaft fungieren und agieren – wie etwa Filme, interaktive Kunstinstallationen oder augmented reality-Verfahren. Bezeichnend für die heutige Aufführung dürfte eine besondere Mischung aus prozesshaft flüchtiger und sich selbst mit- und aufschreibender Ton- und Darstellungskunst sein. Und bezeichnend dürfte dann ebenso nach der Aufführung sein, was wir immersiv erlebt haben und erinnern können und welche Spuren einer vergangenen Gegenwart für immer restlos verschwunden bleiben und dadurch vergangene Vergangenheit sind.

(4) Das (zirkusartige) Gesamtkunstwerk: Weil uns laut Ankündigung zur heutigen Veranstaltung ein symphonisch-audiovisuelles Gesamtkunstwerk erwartet, will ich kurz eruieren, aus welchen Kontexten dieses Konzept stammt und welche Ideen damit verbunden sind.

Die historisch wohl prominenteste Forderung nach dem künftigen Gesamtkunstwerk stammt von Richard Wagner und seinem Aufsatz aus dem Jahre 1849 „Das Kunstwerk der Zukunft“. Inmitten einer immer stärker beobachtbaren Spezialisierung und Ausdifferenzierung der Kunst seiner Zeit agiert und votiert Wagner erstens für die Aufhebung von Gattungen und Stilbindungen – stattdessen sollen sich alle Künstler als Einheit einer Genossenschaft (vgl. 1850: 206) verstehen und stärker denn je kooperieren. Und zweitens votiert er – ganz im Sinne von Remann und Pinto – für die „Tilgung der Grenze zwischen ästhetischem Gebilde und Realität“. Explizit schreibt Wagner sodann: „Das große Gesammtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesammtzweckes aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, – dieses große Gesammtkunstwerk erkennt er [der künstlerische Geist] nicht als die willkürlich mögliche That des Einzelnen, sondern als das nothwendig denkbare gemeinsame Werk des Menschen der Zukunft.“ (Wagner 1850: 32) Nur wenn also der Egoismus jeder einzelnen Kunstrichtung und ebenso der Egoismus jedes Künstlers überwunden sein werden und sich alle gemeinsam aneinander ausrichten und bereichern, nur dann wird das Gesamtkunstwerk der Zukunft im Sinne Wagners entstehen und von nachhaltigem Bestand sein (vgl. 1850: 139).

Mit Blick auf die Bauhaus-Tradition lässt sich noch eine zweite Referenz für die Idee des Gesamtkunstwerks ausmachen; und jene scheint mir mindestens ebenso bedeutsam für den Plan und die Aufführung des „Cirque du Bauhaus“. László Moholy-Nagy, Maler, Fotograf, Designer u.a.m. am einstigen Bauhaus, kurz ein mediales Universalgenie, schrieb im Jahre 1927 ebenfalls gegen jede Spezialisierung und Trennung der modernen Künste an. Aber er wollte keineswegs bei einer organisierten Synthese aller Künste hin zum Gesamtkunstwerk stehen bleiben. Er wollte vielmehr das Gesamtkunstwerk in das umfassende Gesamtwerk und Gesamtwirken des Lebens integrieren. Das Lebendige wäre Träger der Kunst, so Moholy-Nagy. Aber die Kunst wiederum erschaffe und forciere erst alle Lebenseinheit – und bisweilen transzendiere es diese, gleichermaßen produktionsästhetisch wie rezeptionsästhetisch.

So wie unter der Zirkuskuppel Feuer, Erde, Wasser, Luft zusammenkommen und Märchenwelten entstehen lassen, so kann man meines Erachtens auch allen Produzenten des „Cirque du Bauhaus“ die Intention zuschreiben: Sie wollen für einen besonderen Zeitraum eine ungekannt organische und immersiv illusionäre neue Lebenseinheit für uns alle herstellen und erleben lassen. Sie wollen Märchenwünsche im Sinne Freuds verwirklichen. Sie wollen alles Libidinöse in Multisensorik transformieren und uns dabei letztlich selbst zu Teilproduzenten, ja besser noch: zu notwendigen Protagonisten der Vervollkommnung des Gesamtkunstwerks machen.

Seien wir nun also gespannt, wie Ich, Es und Überich in der Aisthesis und Ästhetik und vor allem in der Illusionsästhetik des heutigen Abends gefordert werden. Und seien wir gespannt, wie wir deterritorialisiert und lustvoll entfremdet werden.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen ein unvergessliches, immersives, symphonisches Zirkusgesamtkunstwerkspektakel. Vorhang auf, Manege frei, Ton ab!

https://www.uni-weimar.de/de/medien/professuren/medienwissenschaft/mediensoziologie/prof-dr-andreas-ziemann/